Zucchero „Chocabeck“ Track-by-Track Review und Rezension von David Sinclair
Grundsätzlich ist Zucchero ein Befürworter der neuen Technologien; der 55-Jährige steht den Konsum- und Hörgewohnheiten der jüngeren Download-Generation durchaus offen gegenüber. Dennoch solle man sein neuestes Album „Chocabeck“ als Ganzes hören und es in voller Länge auf sich wirken lassen, gibt er zu bedenken. „So ein Album funktioniert bei mir eher wie ein Gemälde. Da kann man auch nicht hingehen und sagen: ‘Ich hätte gerne diese Blume dort; und das Pferd da drüben vielleicht,’ und lässt den Rest einfach außen vor. Vielmehr wird das Bild erst stimmig und sinnvoll, wenn man es als Ganzes betrachtet.“
Mit den Songs seines neuen Longplayers „Chocabeck“ entwirft er – wenn auch nur in groben Zügen – ein Bild vom Leben in der italienischen Provinz. Der Ort des Geschehens wird zwar nicht explizit genannt, doch erinnert er durchaus an die Provinz Reggio Emilia, jene Region im Norden Italiens also, aus der Zucchero stammt. „Auf diesem Album geht es definitiv um meine Wurzeln“, berichtet er. „Es geht um Fragmente des Lebens in dieser Gegend, um die Bilder und Eindrücke eines typischen Sonntags in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.“
01. „Un Soffio Caldo“ [„Ein Warmer Hauch“]
Das Album beginnt bei Tagesanbruch: mit einem Stück über die Sonne, die über den Berggipfeln aufgeht und deren Licht sich wie ein warmer Hauch über die gesamte Landschaft legt. Als die ersten Sonnenstrahlen auf den Fluss und die Brücke fallen, lösen sich die Träume der vorangegangenen Nacht auf und der Tag nimmt nach und nach deutliche Konturen an: „Am Tag wird man Hunden begegnen, die einen ins Bein beißen wollen; und man wird mit Herrschaften zu tun haben, die Macht über einen ausüben wollen“, meint Zucchero. „Und doch beginnt jeder Tag zunächst einmal mit einem Gefühl der Hoffnung, er beginnt mit guter Laune: ich erwache und fühle einfach nur die Freiheit, die mich wie ein warmer Hauch umgibt. Obwohl ich nun wach bin, sind meine Träume noch nicht ganz verschwunden; ich behalte sie den ganzen Tag über im Hinterkopf – und manchmal sogar für ein ganzes Leben. So ein Traum wird greifbar, wenn du mit deiner Frau und deinen Kindern daheim bist, oder zum Beispiel auch, wenn du Musik machst. Es geht dabei also um dieses Gefühl von Freiheit, dass sich in derartigen Situationen einstellt; die Freiheit, weil man unter sich ist und einem niemand reinreden kann.“
02. „Someone Else’s Tears“
Dieser sanfte Akustiksong bringt den Rhythmus des Lebens in der italienischen Provinz auf den Punkt. Der Songtext stammt in diesem Fall aus der Feder von Bono: „The grapes are gathered, the wine is pressed/And despite the rain/It’s been a good year to walk these fields again“, singt Zucchero über die Weinbauern der Region, und seine Stimme hebt sich zum Refrain; sie glänzt über einem wunderschönen Teppich aus Keyboard-Klängen, zu denen sich in diesem Fall auch ein Cembalo und eine Kirchenorgel gesellen. „Bono und ich sind schon seit Ewigkeiten gute Freunde“, berichtet er. „Er verfasste schon damals die Songtexte für Stücke wie ‘Blue’ und für ‘Miserere’, jenen Song also, den ich mit Pavarotti aufgenommen habe. Allerdings muss man wissen, dass Bono kein einziges Wort Italienisch spricht: Er hörte sich einfach nur die Melodie an und verfasste dazu diesen wunderschönen Text, der genau das zum Ausdruck bringt, was mir dabei vorschwebte: Das Leben auf dem Land, der Wein, die Freude an den einfachen Dingen. Insofern stimmt es wohl doch, dass die Musik den Text immer schon in sich trägt. Richtig gute Texter hören einfach nur ganz genau hin und finden die Worte in der Melodie, die eigentlich schon die ganze Zeit über darin versteckt waren.“
03. „Soldati Nella Mia Citta“ [„Soldaten in meiner Stadt“]
Zucchero greift in dieser bewegenden und doch zuversichtlich klingenden Ballade auf eigene Kindheitserinnerungen zurück und besingt die Hoffnungen und Ängste, die damals in den Anekdoten der anderen Dorfbewohner durchschimmerten: „Ich wurde zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, und trotzdem lag zu dieser Zeit noch immer ein Nachgeschmack all dieser Grausamkeiten in der Luft“, meint Zucchero. „Ich kann mich zum Beispiel noch daran erinnern, wie ich mit meiner Großmutter Diamante eines Sonntags einen Spaziergang machte und wir all diese Soldaten dabei beobachteten, wie sie ihre Sachen packten und die Stadt verließen. Ich hatte damals das Gefühl, dass ihr Abzug ein gutes Omen war: Nach all dem Regen, all der Trauer sollte endlich die Sonne wieder rauskommen und alles sollte sich zum Besseren wenden. Ich hatte plötzlich wieder Hoffnung, und die Angst, die ich als kleiner Junge beim Anblick der Soldaten gehabt hatte, verschwand nach und nach. Nach all den schlimmen Kriegserfahrungen war nun endlich Platz für die ausgelassene Stimmung des Sommers.“
04. „E’ Un Peccato Morir“ [„Eine Schande, Dass Man Sterben Muss“]
Dieser Track wird in der Schweiz und in Italien als erste Single veröffentlicht. Zugleich ist es eines von drei Stücken, die Brendan O’Brien produziert hat (der zudem sämtliche Songs des Albums abgemischt hat). „Er ist einfach so unglaublich talentiert“, sagt Zucchero über O’Brien. „Er zählt definitiv zu den besten Produzenten der aktuellen Musiklandschaft. Er ist ein grandioser Tontechniker. Er ist ein großartiger Musiker – ein Musiker, der wirklich jedes Instrument beherrscht –, und er ist obendrein auch noch wahnsinnig schnell. Er hat seinen eigenen Sound, und er kommt immer sofort zur Sache.“ Wie bei einem Großteil der neuen Stücke, wächst auch in diesem Fall die wunderschöne Melodie förmlich über sich hinaus, wenn die Streicherarrangements von Davide Rossi einsetzen. Der italienische Geiger, der seit geraumer Zeit in Dänemark lebt, hatte zuletzt die Arrangements für das Coldplay-Album „Viva La Vida or Death and All His Friends“ beigesteuert; zudem ist er seit Jahren für seine Arbeit mit Goldfrapp bekannt. „Davide ist einfach ein Genie. Ein unglaublich junges Genie“, so Zucchero. „Er kann alles spielen, alles arrangieren – Geige, Bratsche, Cello, Kontrabass –, und bei ihm klingt das Ergebnis automatisch zeitgenössisch und modern. Bei ihm klingen die Streicher nun mal nicht wie ein 60-köpfiges Orchester von anno dazumal, was daran liegt, dass er mit Rockmusik aufgewachsen ist. Er hat diesen Rhythmus im Blut und bringt da diesen Schwung rein. Diesen Rock-Groove.“
05. „Vedo Nero“ [„Ich Sehe Schwarz“]
Bei „Vedo Nero“ steht das Orchester ganz klar im Vordergrund, während ein druckvoller Rhythmus den Song vorantreibt. Typisch italienisch ist das Thema, das ein leidenschaftlicher Zucchero in diesem Fall präsentiert: „Dieses Stück ist ehrlich gesagt ziemlich ironisch und voller Zweideutigkeiten“, erklärt der Sänger. „‘Vedo Nero’ kann natürlich so viel bedeuten wie ‘schwarzseherisch’ im Sinne von ‘pessimistisch’. Im Italienischen bedeutet der Ausspruch jedoch zugleich etwas vollkommen anderes, das Gegenteil, wenn man so will: Es bedeutet nämlich auch, dass das Tier in einem erwacht. Die Szenerie ist folgende: eine laue Sommernacht, hübsche Mädels auf der Tanzfläche, in der Luft liegt der Duft von Parfüm. Alles an dieser Nacht fühlt sich wie aus Seide an. Selbst der Mond ist dunkel und sexy. Sinnlichkeit liegt in die Luft. Du fühlst dich frei, fühlst dich gut; du tanzt und willst einfach nur diesen Moment mit einem anderen Menschen teilen. Das Leben ist schließlich viel zu kurz. Ich will mich amüsieren – und zwar jetzt gleich. Das ist die Art von Schwarzsehen, von der ich hier rede.“
06. „Oltre Le Rive“ [„Jenseits des Ufers“]
„Oltre Le Rive“ ist der vielleicht romantischste Song des neuen Longplayers; er fließt mit der Eleganz eines Flusses dahin, der auch dann noch plätschert, wenn das Leben schon wieder vorbei ist. „Wenn man Glück hat, verliebt man sich ein Mal im Leben“, meint Zucchero. „Ich habe mich jedoch schon zwei Mal in meinem Leben in einen Menschen verliebt, also habe ich wahnsinniges Glück gehabt! Allerdings ist diese zweite Liebe nicht mit der ersten zu vergleichen. Die erste, wenn man gerade mal 20 Jahre alt ist und dann 16 Jahre zusammen verlebt, wird einen auch danach für immer begleiten. Natürlich gab es da Probleme, schließlich war man letzten Endes ja nicht der richtige, um den anderen Menschen glücklich zu machen. Trotzdem wird man für immer ein Teil des anderen sein, auch wenn das alles längst vorbei ist und man getrennt voneinander lebt. Mit diesem Song will ich sagen: Ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst. Du kannst immer zu mir kommen; du musst dich nur am Ufer des Flusses umschauen, weil du noch immer ein Teil von mir bist. Ich glaube, wenn man jemanden dermaßen intensiv geliebt hat, dann hält diese Liebe das ganze Leben lang – selbst wenn man ab irgendeinem Punkt wieder getrennte Wege geht.“
07. „Un Uovo Sodo“ [„Ein Gekochtes Ei“]
Verrückter Titel. Und dazu ein lockerer Song, mit dem Zucchero in Richtung Tanzfläche aufbricht. Typisch für ihn ist dabei die schräge Metapher, die er wählt, um seine nichts sagende Stimmung zu beschreiben, nachdem ihn eine Liebhaberin versetzt hat: „Un uovo sodo senza te/Non c’è più un posto per me/Se non c’è un posto dentro al tuo cuore“, [zu Deutsch etwa: „ohne dich bloß noch ein gekochtes Ei/Für mich gibt es keinen Platz mehr/wenn ich keinen Platz in deinem Herzen hab“] singt er über einen Beat, der sofort in die Beine geht. Gleich danach bezieht er sich auf Mirto, eine Likörspezialität aus Sardinien, wenn er das berühmte Gedicht „San Martino“ von Giosuè Carducci absichtlich falsch zitiert und „mirti“ statt „irti“ singt. „Überhaupt finde ich das alles schwierig, weil man in neun von 10 Fällen meine Texte überhaupt nicht in eine andere Sprache übersetzen kann“, meint Zucchero dazu. „Ich benutze häufig regionale Ausdrücke, Slangausdrücke, Worte mit zweifacher Bedeutung, Wortspiele, Ironie, Sarkasmus – kurz gesagt: Witzige Sachen, die allerdings nicht mehr witzig sind, wenn man sie übersetzt. Für Leute, die kein Italienisch können, ist es teilweise ganz schön schwierig zu verstehen, was ich mir dabei wohl gedacht habe.“ Was auch immer verloren gehen mag bei der Übersetzung – fest steht: Auf dem Song mit dem gekochten Ei begegnet man einem Zucchero, der so ausgelassen wie selten klingt.
08. „Chocabeck“
„Meine Eltern waren Bauern, und als ich klein war hatten wir nie besonders viel Geld“, erzählt Zucchero. „Nur am Sonntag gab es ausnahmsweise immer ein bisschen Kuchen für die Kleinen. Allerdings kam es manchmal vor, dass der Tisch auch am Sonntag leer war und da kein Stück für uns stand. Und wenn ich meinen Vater dann nach etwas zu essen fragte, sagte er nicht, dass wir mal wieder nichts im Haus hatten, sondern meinte nur: ‘A ghe di chocabeck’ [‘Wir haben noch „chocabeck“ da.’]. Dieser Ausdruck ist schon uralt und er setzt sich aus ‘choca’, also ‘klappern, und ‘beck’, was für ‘Schnabel’ steht, zusammen – und der Schnabel klappert nun mal, weil er leer ist und mal wieder nichts zu Fressen hat. So gesehen ist das Wort ‘chocabeck’ also eine nette Umschreibung, die bedeutet, dass nichts zu essen im Haus ist.“ Auf dem Titelstück der LP ist auch Brian Wilson als Vokalgast zu hören: „Ich finde, dass Brian definitiv zu den größten Rockmusikern aller Zeiten gehört“, meint Zucchero. „Ich hätte ehrlich gesagt niemals damit gerechnet, ihm persönlich zu begegnen, geschweige denn mit ihm einen meiner Songs aufnehmen zu können. Der Track klingt so schon ein wenig nach den Beach Boys, und durch seinen Gesang natürlich umso mehr. Es war einfach nur beeindruckend zu sehen, wie schnell er die ganzen verschiedenen Harmonien aufnahm: sechs, sieben, acht Gesangsspuren, die er mal eben nacheinander einsang. Dieser Mann ist einfach eine Legende.“
09. „Alla Fine“ [„Am Ende“]
Diese gefühlvolle Ballade besticht mit einem grandiosen Orchester-Arrangement, um danach mit einer minimalistischen Klavierpassage zu enden – was für Zucchero bedeutet, dass seine Stimme in diesem Fall ein fast schon opernhaftes Spektrum abdeckt. „Dieser Song ist einem Freund namens Charlie gewidmet, der an Krebs gestorben ist“, berichtet Zucchero. „Wir kannten uns zwar erst seit drei Jahren, aber ich habe ihn geliebt und er mich auch. Charlie war ein absolut aufrichtiger Mensch. Er hat bis zum Schluss gegen die Krankheit gekämpft. Den Song schrieb ich erst eine Woche vor seinem Tod. Ich spielte ihm das Stück vor, und er brach daraufhin in Tränen aus. Und dann war es aus mit ihm. Ich war wütend. Schockiert. Tieftraurig. Als ich das Stück schrieb, dachte ich mir, dass das alles vielleicht etwas zu dramatisch und zu traurig klingt. Doch dann erkannte ich, dass es um etwas geht, das viel größer ist als wir beiden. Denn im Grunde genommen ist dieses Stück ein Liebeslied, ein zutiefst emotionales Liebeslied. Ein Song, der für all diejenigen geschrieben ist, die einen Menschen vermissen, der nicht mehr unter uns weilt.“ [Den Text der englischen Version von „Alla Fine“ hat übrigens niemand Geringeres als Iggy Pop beigesteuert; gewiss eine überraschende Wahl. „Iggy ist auf der Bühne nicht zu schlagen; da wird er zum Tier, aber er hat auch eine dichterische Ader“, meint Zucchero. „Wenn man allein von seiner Show ausgeht, könnte man denken, dass man es hier mit dem Teufel persönlich zu tun hat. Doch wenn man ihm dann begegnet, merkt man, was für ein netter und liebevoller Mensch er doch ist. Ich hatte einfach riesiges Glück, mit ihm arbeiten zu dürfen.“]
10. „Spicinfrin Boy“
Ein akustisch eingespieltes Schlaflied, absolut sanft und seicht, das wie ein lauer Abendwind aus den Lautsprechern geweht kommt: „Spicinfrin Boy“ ist noch so ein Song, der auf einer Erinnerung an seine geliebte Großmutter Diamante basiert. „Das Wort bedeutet so viel wie: ‘ein lieber Kerl, der es aber auch faustdick hinter den Ohren haben kann’“, sagt Zucchero. „Meine Großmutter benutzte diesen Ausdruck liebevoll als Kosename für mich.“
11. „God Bless The Child“
Der zweite englischsprachige Track von „Chocabeck“ besticht wiederum mit einem großen Orchester-Arrangement; geschrieben hat Zucchero den Song zusammen mit Roland Orzabel (von Tears For Fears) sowie Chaz Jankel und Derek Hussey von The Blockheads. Der im Verlauf der LP beschriebene Tag endet mit diesem Stück; und man spürt, wie überall um einen herum Ruhe einkehrt. „I feel joy will drown the sorrow/Like a child that can never grow old“, singt Zucchero und lässt das wohl persönlichste Album seiner Karriere mit ruhigen, optimistischen Worten ausklingen.
„Ich bin nun schon so lange, so viele Jahre durch die Weltgeschichte gereist“, sagt er abschließend, „und jetzt bin ich nun mal an einem Punkt angekommen, an dem mir nichts wichtiger ist, als wieder an dieses Leben in einer kleinen Dorfgemeinschaft anzuknüpfen: die Szenerie, die Klänge, die Eindrücke dieses Lebens will ich wieder spüren. Ich lebe in einem kleinen mittelalterlichen Dorf in einem Haus aus dem siebten Jahrhundert, das ich wieder hergerichtet habe. Diese Häuser sind aus uralten Steinen gemacht, die Wiesen in der Umgebung sind voller Blumen und Mais, und man kann das Rauschen des Flusses in der Nähe hören – das hat schon etwas Hypnotisches. Ich möchte ein einfaches Leben mit meiner Familie führen, mich ohne Ablenkungen auf die Dinge konzentrieren, die es schon immer gab. Denn davon handeln meine Songs im Grunde genommen. Diese Emotionen und diese Bilder schlummern irgendwo tief in mir drin. Und es geht um nichts anders als um genau diese Gefühle.“